Texte

Dmytro
2022

"Dmytro?", fragte die Mutter.
"Nein", sagte das Kind. "Georgiy, Illia, Anna und Ulyana. Dmytro nicht."
"Aber Dmytro ist neu", sagte die Mutter. "Er kennt ja nur uns."
"Na und?", sagte das Kind. "Dmytro ist blöd."
Es saß am Küchentisch und zeichnete in das neue Heft. Der Umschlag war dunkelblau. Letzten Sommer hatten ihm die Eltern das Meer gezeigt. Wenn es die Augen schloss schmeckte es Salz und Eis mit Vanillegeschmack. Es schmeckte das Rote der Haut, die Sonne hatte sie an den Schultern verbrannt.
"Schlagobers", hatte der Vater gesagt und ihm Tupfer aus weißer Creme auf die brennenden Stellen getan.
"Warum ist Dmytro blöd?", fragte die Mutter.
"Er kann ein Pferd", dachte das Kind. "Ein Pferd und einen Bauernhof kann er auch. Sogar mit den Bauern und den Kindern darauf."
"So halt", sagte es. "Er gibt immer so an."
"Wer niemanden kennt, hat es schwer", sagte die Mutter. "Georgiy, Illia, Anna, Ulyana und Dmytro. OK?"
"Siehst du," hatte die Lehrerin zu ihm gesagt. "Jetzt ist noch jemand da, der auch so schön zeichnet wie du."
"Nein", sagte das Kind. "Dmytro nicht."
Unter der Veranda, draußen im Hof, stand das Paket. Alle wussten, was es enthielt, auch das Kind.
"Ein Fahrrad bekommst du nicht", hatte der Vater gesagt und gezwinkert.
"Zu gefährlich", hatte auch die Mutter gemeint. "Zum nächsten Geburtstag, vielleicht."
Sicher war es blau. Wie das neue Heft und das Meer. Der Vater hatte es am Morgen geholt. "Das ist nicht für dich", hatte er gesagt. "Mit sechs Jahren ist man zu alt für ein Geburtstagsgeschenk." Er hatte es lachend an beiden Armen gepackt und mit einem Schwung auf seine Schultern gesetzt. "Eine Torte gibt es", hatte er gesagt. "Eine ganz kleine, vielleicht."
Das Kind zeichnete eine winzige Torte und ein riesiges Paket. "Das ist aber nicht für mich", sagte es. "Dafür bin ich schon viel zu groß."
Die Mutter küsste ihren Zeigefinger und drückte ihn auf der Stirn des Kindes platt.
"Auch küssen darf ich dich ab morgen nicht mehr", sagte sie. "Ab morgen bist du mein erwachsenes Kind."
"Was ist das?", fragte das Kind.
"Eines, das versteht, was Erwachsene tun", sagte die Mutter.
"Nein", sagte das Kind. "Der Lärm. Draußen ist so ein komischer Lärm."
"Das ist ein Flugzeug", sagte die Mutter. "Das geht vorbei." Sie zog die Vorhänge zu, obwohl es noch gar nicht richtig dunkel war.
Ganz oben am Gaumen schmeckte das Kind ein salziges Rot.
"Wenn die Sonne brennt, gibt Papa Schlagobers drauf", sagte das Kind.
"Ja", sagte die Mutter, sie hatte nicht zugehört. "Da hat er ganz recht."
Sie holte die schwarzen, metallenen Formen und den Weidling aus dem Schrank.
"Drei?", fragte das Kind.
"Für alle zwei Jahre eine", sagte die Mutter. "Die Mittlere kommt auf die Große und die Kleine ganz obenauf. Das wird keine Torte. Das wird ein Schokogeburtstagsturm."
Der passte dann nicht in den Eisschrank hinein. Dabei hatte die Mutter das mittlere Fach entfernt. Der komische Lärm draußen hörte nicht auf.
Das Telefon läutete anders als sonst.
"Nein", sagte sie. Und dann: "Ja."
Sie stellte die dreistöckige Torte mit weißer Schokoglasur auf den Tisch.
"Das ist jetzt nicht so wichtig", sagte sie.
Auf einmal hatte sie die Urlaubstasche in der Hand. Sie hängte dem Kind den kleinen Rucksack um und sperrte die Wohnungstür hinter sich zu.
Auf der Straße waren so viele Menschen wie zu Weihnachten. Alle trugen Sachen herum. Im Bus bekamen sie einen Sitz zu zweit. Während der Fahrt ordnete das Kind das Durcheinander im Kopf.
Es dachte den nächsten Tag neu. Georgiy, Illia, Anna, Ulyana und Dmytro. Sie könnten den Bauernhof gemeinsam zeichnen.
"Mama", sagte es ins Dunkel. "Mama, ich weiß was."
Die Mutter tat, als schliefe sie.

Veröffentlicht in erostepost, Juli 2022

Wastas no?
2021

Wastas no?

Denan Leichentrega hot da Wind dschwoazn Jackn aufblaht, ois wuatatns glei ohem, saumtn Soag. Es letzte Gschichtl hot da Pforra gsogt, dea di ned kennt hot, ned so guad wia i, des letzte Gschichtl hot ned gstimmt. Ea muass wos song, hest gsogt und glocht. Putz di, hättst gsogt, mit dein Blabla, geh bodn mit dein God.
"Wastas no?", kaun i jetz nimma song, die Gschichtl bleim alla bei mia. Da Soag mit dia get owe in die Gruam, du woast a Teu vo mia. Sechzg Joa hob i di kennt, do kummt a weng wos zaum.
Aum Aufaung hob i glaubt, du mogst mi ned, und i hob mi weng dia so gschaumt. Schwoaz putzn woast im Kino und im Gschäft, i woa ima mid mid dia. Wast as no? Im Kino haum ma untad Sitz de Schülling gfundn und uns drum wos Guates kauft. Da Greissla hot da oft an Dopla gschenkt, den host daham beim Bügln trunken und dabei Peta Alexanda gheat. I hob di maunchmoi direkt ghosst.
Wastas no, wiasd aufs Finanzaumt gaunga bisd weng ana Stö? Aussekumma woitatst aus de via Wend. Ea owa woitat ned, weng an gaunz an laungan Wuat. Wos des woa hob i ned vastaundn ghobt, nua dass wos gaunz wos Wichtix sei hod miassn, du hostas jo auf Hochdeitsch gsogt. "Dea Trottl", host du gsogt, "dea losst mi ned".
"Wiaso denn des?", hot Nochbarin gfrogt, "es brauchts des Göd do eh."
"Wengan Alleinverdienerabsetzbetrag", host gsogt und jede Süm gaunz fest betont.
Späda host mi packt und mia san nomoi aufs Finanzaumt grennt. "I putzat schwoaz", host zu da Frau duat gsogt, "Ea untaschreibt ma fia die Steianumma ned."
I was nimma wos die Auntwuat woa, i erinna mi nua mea auns Gfüh. A Gfüh, wia waunst di schaumst, wasd owa ned, wiaso.
A Zeidlaung hob i di ned gseng, do woa i in an aundan Laund. Wastas no, wia i daun wieda kuma bin, und du host di gfreit ois wia? Wastas no, wia i di daun ins Heim brocht hob, wia da Voda auf amoi nimma woa.
"I wü ins Heim", host gsogt und i bin mit dia umegfoan. Di haum uns umanaunda gfiat und dia den Goatn und de Zimma zagt. Obst a Anzlzimma wüst oda ans mit zwa Bettn drin, haums gfrogt.
"I wü ham", host gsogt, "Bettn haum ma söwa gnua." Daun woast no vü Joa alla im Haus, mia san vü zaumpickt. Jetz is nem mia a Loch.

Veröffentlicht im Morgenschtean, Mai 2021

Der Hase
2020

Einmal hatte ich in einem Haus am Fluss gewohnt, gegenüber saß bisweilen die Nachbarin nackt auf dem Stein. Ich schämte mich sehr. Immer wieder schweiften meine Gedanken hin zu ihr, fast nie aber mein Blick. In der Nacht träumte ich sie mir in mein Bett, sie war sanft und ein klein wenig frech. "Gehst du den Flussweg entlang," flüsterte sie in einer Sternennacht, "dann drehe dich alle paar hundert Meter um, halte den Daumen der linken Hand an die Nase, die drei mittleren Finger gekrümmt, kleiner Finger gestreckt zum Daumen der erhobenen rechten Hand, die drei mittleren Finger gekrümmt, kleiner Finger geradeaus in die Luft." Eine lange Nase zeigen, in Richtung der Küchenfenster am anderen Ufer, deren Vorhänge sich leicht zur Seite schieben, wenn ich spazieren gehe, am Fluss. Es sind wohl Köpfe dahinter, keine Vasen mit Ohren am Fensterbrett.

Auch am Mond ist die Nachbarin daheim, wenn er voll ist und zu mir durchs Fenster schaut. "Du hast es nicht geputzt", flüsterte sie in mein Ohr zur Osterzeit, die im Dorf am Fluss nach sauberen Scheiben verlangt. "Man braucht hier Nerven dazu", hauchte sie sacht. "Die meisten brechen vorher in Panik aus, wischen und stellen Gestecke und Hasen aus Schokolade auf."

 

Lebende Hasen eignen sich nicht für den Stall, Kaninchen sind besser dafür.

Als ich neu war im Dorf, wurde ich auf mein Wesen geprüft. Vielleicht war es auch nur einfach die Not, als der Nachbar links nebenan von der Leiter fiel. Eine Unregelmäßigkeit, die Ungeschriebenes durchbrach. Seine Frau kannte mich kaum, doch händigte sie mir ungefragt einen Schlüssel aus. Obst und Gemüse wären kleingeschnitten im Kühlraum hinter der Tür. Die Tiere fräßen sehr viel, doch müsse sie mit ihm ins Spital, sie käme erst in einer Woche zurück. Einmal pro Tag, bat sie mich, die Angorahasen seien sein Heiligtum.

Auf Zehenspitzen beschlich ich den Stall, die Ehre erschien mir groß, doch drückte die Verantwortung schwer. Zudem hatte ich den ersten Tag der Betreuung versäumt, schließlich kommen auch Menschen einen Tag ohne Nahrung aus. Es roch nach Heu, hinter den Maschengittern knabberte es. Im Dunklen sah ich zunächst nur die atmenden Felle in weiß, bald schauten mich zahlreiche Paare roter Augen erwartungsvoll an. In einem der Käfige lag ein Tier alleine im Eck, es atmete nicht und hatte die Augen fest zu, mir riss es die meinen weit auf. Zaghaft öffnete ich den Verschlag, eine zuckerreduzierte Pastinake hatte ich schon in der Hand. Damit stubste ich sanft in das leblose Tier, es bewegte sich nicht. Von einem toten Hasen gehen Gefahren aus, wenn er im Käfig des Nachbarn liegt und man die Schuld an seinem Verenden trägt. Sofort drückte ich die Gittertür wieder zu.

Ein Tag ohne Futter und schon die Löffel gestreckt?, ich fasste es nicht. Noch war kein klarer Gedanke in mir, doch handelte ich bereits. Ich riss die Käfigtür wieder auf, wickelte den schlaffen Kadaver in ein Tuch und legte ihn in eine der Transportkisten hinein.

Der übernächste Züchter war ziemlich entfernt, zum nächsten konnte ich aber aus naheliegenden Gründen nicht. "So einen ähnlichen Hasen hätte ich gern", sagte ich zu dem Mann, nach Stunden der Fahrt, und wies ihm die Leiche vor. "Die Nachbarin hat mir drauf aufgepasst, jetzt ist’s passiert." "Kaninchen", nickte der Mann, "gehören in die richtigen Hände, vor allem eine Rasse wie die. Und überhaupt: Kaninchen sind keine Hasen, ein Apfel ist auch keine Birn’."

Friedlich knabberte das frische Kaninchen am Heimweg sein Heu, als wäre es im Transportkarton am Beifahrersitz schon daheim. Seinen toten Kollegen hatte der Züchter entgegengenommen, mit Verachtung im Blick. Endlich hoppte das Tier aus der Schachtel in sein neues Quartier. "Erledigt", dachte ich, schloss die Tür hinter mir zu und gleich wieder auf. War ich doch am Morgen zum Füttern gekommen, was ich nun schließlich tat.

Kein Vollmond leuchtete in dieser Nacht durch mein Fenster herein.

Doch klopfte es ziemlich früh an der Tür. Der Nachbar stand da, am Kopf einen weißen Verband, er schaute ziemlich entgeistert drein. Vielleicht auch schaute er nur so ähnlich wie ich. "Warum … ", sagten wir beide zugleich.

"War nicht so schlimm", deutete er sich mit dem Zeigefinger an seine Stirn. "Die Frau übertreibt. Aber: Was haben Sie mit meinem Kaninchen gemacht?"

"Mit welchem Kaninchen?", entgegnete ich, "Sie haben doch viele davon."

"Mit welchem Kaninchen!", rief er recht laut, "mit dem toten, im Käfig zweite Reihe von links."

In meinem Kopf knabberte es, rote Lampen blinkten paarweise auf. Ich steuerte meine Augen in Richtung der seinen, doch nahm ich nur die Falte über der Nasenwurzel wahr. "Aber", dachte ich laut, "es lebt doch. Wieder, also jetzt."

Er schaut mich an, als hätte er mich bei einer Lüge ertappt, wisse aber nicht, warum.

Zur Vorsicht dachte ich erst einmal nichts.

"Das Vieh war tot", sagte er, "ich habe den Plastiksack zum Verpacken von oben geholt, die blöde Leiter war hin."

Die Falte über seiner Nase wurde zum Strich, auf meiner Zunge lag Blei.

An das weitere Gespräch erinnere ich mich nicht, doch gingen mir seither die Nachbarn im Dorf mehr und mehr aus dem Weg.

Nur die Nachbarin saß manchmal noch nackt auf dem Stein. Dann schämte ich mich, weiß aber nicht mehr, wieso.

 

Veröffentlicht in Etcetera, Mai 2020

Das Kamel

Das Kamel ist so mager, es geht unschwer durchs Nadelöhr, nur kommt es so leicht nicht wieder retour.

Mit Kreditkarte ist aber alles leicht, und ‚Alles?’ fragt mich auch die Frau an der Kasse, doch wie immer habe ich den doppelten Boden meiner Tasche angefüllt mit Waren aller Art. Da ich von Haus aus verlogen bin, entgegne ich auf die Frage mit einem deutlichen ‚Ja’. Einiges habe ich aufgeschoben auf Band, im Spiegel ober uns begegne ich einem traurigen Blick.

Das Zeug das ich nach Hause schleppe benötige ich in Wahrheit nicht, aber was ist schon wahr? An der Kasse finden niemals Begegnungen statt, obwohl es sich gerade an diesem Ort staut. Wo es staut kommt Ungeduld auf. In der Ungeduld gibt man Dinge preis, oder macht sich vorher lieber einem Ärger noch Luft.

Dazu aber kommt es heute nicht, denn: das kann doch nicht wahr sein, der Franz! ‚Bitte, Franz stößt’, will ich sagen, denn er steht mit dem Wagerl in der Schlange hinter mir und ich sage ‚Hallo. Das gibt es doch nicht’.

Noch am Vortag waren wir beide oben, in Pavillon zehn. Dort kommen in Wien die taumelnden Seelen hin, denen ein Schokoladetörtchen allein nicht genügt. Ich weiß, dass er oft bis zu zehn gefressen hat oder sogar darüber hinaus. Schokoladetörtchen ist nur so ein Wort dafür. Manche Wörter entlasten, doch ein gewisses Maß an Schuld bleibt, zumindest ein flaues Gefühl.

Die Baumgartner Höhe, sagt er überlaut, war auch nicht das Wahre.

Halt’s Maul, zische ich, denn die Welt ist klein, man darf nicht laut sprechen, das irritiert. Im Schwindeln geschult erkenne ich gleich: Auch seine Tasche hängt schwer nach unten durch.

Er ist das Direkte noch gewohnt. Ich bin schon wieder auf Mimikry.

Er war am Golan gewesen, hat also im Ausland durchgedreht. Das verleiht ihm Flair. Ich hingegen rotierte im Nationalgebiet, ein reines Synapsenproblem. Unkoordiniertes Aneinanderreihen von Bildern dreht bisweilen am falschen Film, Abspann in rot. Da hilft dann ein Mann in Weiß, der Fragen stellt.

Wie geht’s?, fragt Franz, doch ist eine harmlose Frage, vom Falschen gestellt, oft einfach nicht gut.

So schaue ich ziemlich entsetzt.

Ein Schluck zur Deeskalation?, fragt Franz zum Scherz und hält mir ein Fläschchen Underberg vor. In Kriegsherden ist Deeskalation vielleicht gefragt. Nicht so im Wiener Verdichtungsgebiet. Hier geht es im Grunde um nichts, auch das ist für manche ein großes Problem.

Der Wodka, sagt Franz so laut, dass es alle reißt, hat schon den neuen Verschluss. Diebstahlsicherer Flaschenumbau, nicht schlecht. Ein rascher Schluck am Regal ist Bedürftigen nunmehr verwehrt. ‚Das sind die Starken im Lande’, sagt Franz, ‚die unter Tränen lachen, ihr eigenes Leid verbergen und anderen Freude machen.’

Die Diagnose von Franz ist mir von oben bekannt. Eher unheilbar ist das schon, wobei, es gibt ein neues Medikament. Oben, da kennen wir keine Scheu. Keine Schokoladentörtchen, das setzt Blockaden frei. Man redet, als ginge es um das Leben und bei manchen ist es auch so. In meinem Gesicht ist schon wieder der verkniffene Strich. Wie ein Strichcode, ha, ha. Franz ist da anders, er scheißt sich nichts, lebt, irgendwie doch.

Ich zahle still, das stille Zahlen, wenn auch nicht den vollen Preis, ist mir inhärent, und gehe mit meiner schweren Tasche davon. Einmal drehe ich mich noch um und sehe ihm nach. Er hat seine Tasche abgestellt, sein Mantel liegt auf dem Bürgersteig. Er selbst schlägt ein Rad.

Veröffentlicht in der Anthologie "Wie Phönix aus der Asche", 2016

Heazipinki

Mia zintn

a Keazn au,

uns is

grod danoch.

 

I steh auf des:

romantisch und so.

I vaschpia mi daun.

Du vaheast di gean.

 

De Keazn brent o.

Mocht no an Zischa,

mia zwa haum an Huscha.

 

Und bevuast gehst,

schenk i da no

an Wei

ei.
Veröffentlicht im DUM, 2014