Der Hase

2020

Einmal hatte ich in einem Haus am Fluss gewohnt, gegenüber saß bisweilen die Nachbarin nackt auf dem Stein. Ich schämte mich sehr. Immer wieder schweiften meine Gedanken hin zu ihr, fast nie aber mein Blick. In der Nacht träumte ich sie mir in mein Bett, sie war sanft und ein klein wenig frech. "Gehst du den Flussweg entlang," flüsterte sie in einer Sternennacht, "dann drehe dich alle paar hundert Meter um, halte den Daumen der linken Hand an die Nase, die drei mittleren Finger gekrümmt, kleiner Finger gestreckt zum Daumen der erhobenen rechten Hand, die drei mittleren Finger gekrümmt, kleiner Finger geradeaus in die Luft." Eine lange Nase zeigen, in Richtung der Küchenfenster am anderen Ufer, deren Vorhänge sich leicht zur Seite schieben, wenn ich spazieren gehe, am Fluss. Es sind wohl Köpfe dahinter, keine Vasen mit Ohren am Fensterbrett.

Auch am Mond ist die Nachbarin daheim, wenn er voll ist und zu mir durchs Fenster schaut. "Du hast es nicht geputzt", flüsterte sie in mein Ohr zur Osterzeit, die im Dorf am Fluss nach sauberen Scheiben verlangt. "Man braucht hier Nerven dazu", hauchte sie sacht. "Die meisten brechen vorher in Panik aus, wischen und stellen Gestecke und Hasen aus Schokolade auf."

 

Lebende Hasen eignen sich nicht für den Stall, Kaninchen sind besser dafür.

Als ich neu war im Dorf, wurde ich auf mein Wesen geprüft. Vielleicht war es auch nur einfach die Not, als der Nachbar links nebenan von der Leiter fiel. Eine Unregelmäßigkeit, die Ungeschriebenes durchbrach. Seine Frau kannte mich kaum, doch händigte sie mir ungefragt einen Schlüssel aus. Obst und Gemüse wären kleingeschnitten im Kühlraum hinter der Tür. Die Tiere fräßen sehr viel, doch müsse sie mit ihm ins Spital, sie käme erst in einer Woche zurück. Einmal pro Tag, bat sie mich, die Angorahasen seien sein Heiligtum.

Auf Zehenspitzen beschlich ich den Stall, die Ehre erschien mir groß, doch drückte die Verantwortung schwer. Zudem hatte ich den ersten Tag der Betreuung versäumt, schließlich kommen auch Menschen einen Tag ohne Nahrung aus. Es roch nach Heu, hinter den Maschengittern knabberte es. Im Dunklen sah ich zunächst nur die atmenden Felle in weiß, bald schauten mich zahlreiche Paare roter Augen erwartungsvoll an. In einem der Käfige lag ein Tier alleine im Eck, es atmete nicht und hatte die Augen fest zu, mir riss es die meinen weit auf. Zaghaft öffnete ich den Verschlag, eine zuckerreduzierte Pastinake hatte ich schon in der Hand. Damit stubste ich sanft in das leblose Tier, es bewegte sich nicht. Von einem toten Hasen gehen Gefahren aus, wenn er im Käfig des Nachbarn liegt und man die Schuld an seinem Verenden trägt. Sofort drückte ich die Gittertür wieder zu.

Ein Tag ohne Futter und schon die Löffel gestreckt?, ich fasste es nicht. Noch war kein klarer Gedanke in mir, doch handelte ich bereits. Ich riss die Käfigtür wieder auf, wickelte den schlaffen Kadaver in ein Tuch und legte ihn in eine der Transportkisten hinein.

Der übernächste Züchter war ziemlich entfernt, zum nächsten konnte ich aber aus naheliegenden Gründen nicht. "So einen ähnlichen Hasen hätte ich gern", sagte ich zu dem Mann, nach Stunden der Fahrt, und wies ihm die Leiche vor. "Die Nachbarin hat mir drauf aufgepasst, jetzt ist’s passiert." "Kaninchen", nickte der Mann, "gehören in die richtigen Hände, vor allem eine Rasse wie die. Und überhaupt: Kaninchen sind keine Hasen, ein Apfel ist auch keine Birn’."

Friedlich knabberte das frische Kaninchen am Heimweg sein Heu, als wäre es im Transportkarton am Beifahrersitz schon daheim. Seinen toten Kollegen hatte der Züchter entgegengenommen, mit Verachtung im Blick. Endlich hoppte das Tier aus der Schachtel in sein neues Quartier. "Erledigt", dachte ich, schloss die Tür hinter mir zu und gleich wieder auf. War ich doch am Morgen zum Füttern gekommen, was ich nun schließlich tat.

Kein Vollmond leuchtete in dieser Nacht durch mein Fenster herein.

Doch klopfte es ziemlich früh an der Tür. Der Nachbar stand da, am Kopf einen weißen Verband, er schaute ziemlich entgeistert drein. Vielleicht auch schaute er nur so ähnlich wie ich. "Warum … ", sagten wir beide zugleich.

"War nicht so schlimm", deutete er sich mit dem Zeigefinger an seine Stirn. "Die Frau übertreibt. Aber: Was haben Sie mit meinem Kaninchen gemacht?"

"Mit welchem Kaninchen?", entgegnete ich, "Sie haben doch viele davon."

"Mit welchem Kaninchen!", rief er recht laut, "mit dem toten, im Käfig zweite Reihe von links."

In meinem Kopf knabberte es, rote Lampen blinkten paarweise auf. Ich steuerte meine Augen in Richtung der seinen, doch nahm ich nur die Falte über der Nasenwurzel wahr. "Aber", dachte ich laut, "es lebt doch. Wieder, also jetzt."

Er schaut mich an, als hätte er mich bei einer Lüge ertappt, wisse aber nicht, warum.

Zur Vorsicht dachte ich erst einmal nichts.

"Das Vieh war tot", sagte er, "ich habe den Plastiksack zum Verpacken von oben geholt, die blöde Leiter war hin."

Die Falte über seiner Nase wurde zum Strich, auf meiner Zunge lag Blei.

An das weitere Gespräch erinnere ich mich nicht, doch gingen mir seither die Nachbarn im Dorf mehr und mehr aus dem Weg.

Nur die Nachbarin saß manchmal noch nackt auf dem Stein. Dann schämte ich mich, weiß aber nicht mehr, wieso.

 

Veröffentlicht in Etcetera, Mai 2020